Einen herzlichen Glückwunsch an unsere 115 Abiturientinnen und Abiturienten zum Erwerb des höchsten Schulabschlusses!
Hier die Wiedergabe der Abiturrede von Bernd Linsen anlässlich der Zeugnisvergabe:
Rede Abiturfeier 2018
„Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig. Soll ich nun zeigen, daß nicht einmal der einjährige Prozeß mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht, daß man das sagt. Ich bin dafür dankbar, dass […] man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.“
Diese Gedanken gehen Josef K., Hauptfigur aus Franz Kafkas „Der Prozess“, kurz vor Schluss des Romans durch den Kopf; keine zwei Seiten später ist er tot, bereitwillig hingerichtet von marionettenhaften Vertretern desjenigen Gerichts, welches ihm bis zum Ende hin kaum in den Grundzügen begreiflich wurde. Sein Ziel, den Prozess zu endgültig zu beenden, hat er erreicht, doch zu welchem Preis?
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
„Kafkabi – Der Prozess hat ein Ende“ – unter diesem Motto nehmen Sie heute Ihre Zeugnisse, die Ihnen die Allgemeine Hochschulreife bescheinigen, in Empfang; Sie verfügen damit über den höchsten schulischen Bildungsabschluss Deutschlands und Ihnen gebühren Gratulation, Anerkennung, vielleicht sogar ein wenig Stolz auf diese Ihre Leistungen. Infolgedessen – und das möchte ich ausdrücklich betonen – bin ich darüber sehr erfreut, dass Sie mich angesichts dieses Festtages zu Ihnen sprechen lassen.
Als ich Ihren Leitspruch zum ersten Mal hörte, empfand ich diesen als amüsant und irgendwie passend. „Kafkabi“ drückt ja als neologistisches Wortspiel durchaus die kafkaeske Situation des Schüler/innen-Daseins, v.a. in der Sek II aus. Leistungen drücken sich in Punkte aus, um die wie auf einem Markt gefeilscht werden will; der eine Operator, der in Fach A etwas völlig anderes verlangt als in Fach B, Hochphasen des Klausurbetriebes an hochindustrielle Fließband-Arbeit erinnernd, für Fächer der Punkte wegen lernen, seltener aus Interesse… „Der Prozess hat ein Ende“ – diese Exclamatio, dieser rhetorische Ausruf, ist nach durchlaufener Sekundarstufe II durchaus nachvollziehbar. Allerdings, denkt man über Ihren Leitspruch einmal etwas genauer vor dem Hintergrund des Kafka’schen Roman nach, sollte es einen nachdenklich stimmen.
„Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen?“, fragt sich Josef K. zum Schluss. Er erkennt, ein Jahr nach seiner ominösen Verhaftung, ein Jahr nach Beginn seines Prozesses, dass seine einzige Möglichkeit, den Prozess zu beenden, diejenige ist, sich willfährig hinrichten zu lassen. Zu Hauf ist ihm aus verschiedener Quelle zugetragen worden, dass der Prozess praktisch kaum beendet werden könne. Von einem Freispruch hat keine Figur im Roman jemals gehört. Die Möglichkeiten, die ihm bleiben: den Prozess entweder als etwas Überdauerndes anzuerkennen oder sich der Urteilsvollstreckung zu ergeben, damit der Prozess endlich endet. K. entscheidet sich für letzteres:
„an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“
Der Germanist Peter Beicken interpretiert K.s Ende folgendermaßen: „K. stirbt nicht mit höherer Einsicht, sondern wird um sein menschliches Wesen gebracht. Der Tod führt zu keiner Verklärung oder Versöhnung für K., dem nur die Würdelosigkeit eines verwirkten Lebens in der überlebenden Scham bleibt.“
K. verwirkt also sein Leben, als er sich entscheidet, den Prozess für sich zu beenden. Wer den Roman kennt, weiß: trotzdessen er nach seiner Verhaftung zu Romanbeginn die Möglichkeit bekommt, sich aus dieser Verhaftung zu lösen, um an seinem Prozess derart teilzunehmen, dass er zu einem erfüllten, wesenhaften Sein gelangt – handelt er stets kurzsichtig und dringt nicht in die Tiefen einer Erkenntnis vor. Beziehen wir dies nun auf die Analogie, die in Ihrem Abi-Motto steckt, entsteht ein dringlicher Appell:
Sehen Sie niemals ihren Bildungsprozess als beendet an!
Um es allgemeiner zu formulieren: Bildung und deren stetige Förderung sind unschätzbare Werte, die das Individuum mehr und mehr mit Befähigungen ausstatten und die dem Erhalt und der positiven Fortentwicklung unserer menschlichen Gesellschaft in höchster Weise dienen. Bildung, das ist eine ausgewogene Mischung aus Wissen und persönlichem Können, über die Sie nun in gewisser Ausprägung nachweislich verfügen. Das Fundament, auf dem Sie das Haus Ihres Lebens nun weiter aufbauen werden.
Der deutsche Befreiungspädagoge Heinz-Joachim Heydorn schrieb in den 1960er Jahren: „Es geht darum, dass der reifende Mensch die Wirklichkeit, in der er lebt, in ihren entscheidenden Aspekten erkennt und durch diese Erkenntnis aus seiner unmittelbaren Verhaftung an die Dinge entlassen wird.“ Ohne Bildung sei der Mensch an seine unmittelbare Umwelt verhaftet: Seine subjektive Wirklichkeit erscheint ihm zunächst unverrückbar und gegeben – er lässt sich von dieser Wirklichkeit bevormunden. Aus diesem Grund kaufen wir Dinge, von denen uns gesagt wird, dass wir sie brauchen, aus diesem Grund fühlen wir manches Mal wohl auch Neid auf diejenigen, die mehr besitzen, aus diesem Grund treffen wir Lebensentscheidungen, die uns i. e. S. nicht weiterbringen im Leben. Der mündige Mensch muss sich über sich und seine Umwelt bewusst werden. Dabei darf er nicht im Thesenhaften verharren, darf sich nicht mit oberflächlichen und vermeintlich einfachen Dogmen abgeben, darf nicht das subjektive Empfinden als die allumfassende Wirklichkeit betrachten. Er sollte vielmehr versuchen, hinter die Dinge zu schauen, kritisch den Blick auf die Welt zu legen, im Einklang mit sich und seiner Umwelt leben und fortwährend durch Bildung an sich selber wachsen.
Bleiben Sie nicht den Dingen, sondern Ihrem Prozess verhaftet. Sehen Sie im Ende ihres schulischen Prozesses dennoch eine Fortsetzung der eigenen Bewusstseinswerdung, die sie letztlich befähigt, ihr Leben selbstbestimmt, positiv und – ja- auch erfolgreich zu führen.
Nehmen Sie weiterhin Wissen auf, dass Ihnen den Blick auf die Welt und auf sich selbst erweitert. Erlernen Sie neue Kompetenzen, trainieren Sie das, was Sie bereits können und gerne tun. Geben Sie nicht auf, weil Sie befürchten, ein Prozess sei zu Ende. Geben Sie nicht auf, weil Sie einen Prozess enden lassen wollen. Und geben Sie sich nie mit einer Gewissheit zufrieden, ohne diese zu hinterfragen oder zumindest diese Gewissheiten für hinterfragbar zu halten. Ein kritischer, hinterfragender Blick auf sich und die Welt sind Grundlage eigenen Erkennens. Erkenntnis wiederum ist die Voraussetzung für ein Handeln in Mündigkeit.
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten des für mich ersten Abiturjahrganges, den ich vom Beginn der Q-Phase bis zu den Prüfungen begleiten und fördern durfte:
ich wünsche Ihnen allen einen erfolgreichen weiteren Lebensweg, der für Sie Zufriedenheit mit sich selbst und mit Ihrer Umwelt bereithält. Gehen Sie – in Einklang mit der Umwelt und mit gegenseitigem Respekt auch Andersdenkenden gegenüber – in eine glückliche und spannende Zukunft. Machen Sie die Zukunft zu Ihrer Zukunft und üben Sie aus dieser heraus positiven Einfluss auf Ihre Gegenwart und Ihre Nachwelt aus.
Seien Sie kein Josef K., der glaubt, nur deshalb nicht begriffsstutzig zu sein, weil er entscheidet, sich aus seinem Prozess herauszuflüchten. Nehmen Sie Ihren Prozess an und partizipieren Sie erfolgreich an diesem.
In diesem Sinne: Viel Erfolg und alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg; Kafkabi 2018 – Der Prozess wandelt sich.
Vielen Dank für die unvergessliche und lehrreiche Zeit mit Ihnen!
Bernd Linsen